Der Aegyptische Struwwelpeter
 ein Kuriosum
der österreichischen Kinderliteratur?

 

 

 

 

 

Vortrag von Adelheid HLAWACEK anläßlich des Symposiums
Struwwelpeter reconsidered

 

 

 

 

 

 

9.-11. November 1995

Kerlan Research Collection of Children´s Literature

Walter Library
University of Minnesota
 

Der Aegyptische Struwwelpeter - ein Kuriosum der österrei­chischen Kinderliteratur?

 

Über kaum eine andere Bearbeitung des "Struwwelpeter" weiß man so genau Be­scheid, wie in diesem Fall. Zudem handelt es sich dabei um die einzige mir bekannte österrei­chische Bearbeitung des Struwwelpeters. Lassen Sie Ihrer Phantasie die Zügel schießen und kommen Sie mit mir nach Wien, in das Wien vor genau hundert Jahren.

Um die "Exklusivität" des Aegyptischen Struwwelpeters zu verstehen, muß man die kulturellen und historischen Hintergründe näher betrachten.

Es gibt beileibe keine besonders engen oder alten historischen Beziehungen zwischen Ägypten und der österr.-ungar. Monarchie, sieht man von einzelnen Persönlichkeiten ab, wie z. B. Slatin Pascha oder Negrelli. Slatin Pascha ist ein 1857 in Wien geborener anglo-ägyp­tischer General, der im 1. Weltkrieg als österreichischer Leutnant die Kriegsgefangenenhilfe des Österreichischen Roten Kreuzes leitete. Alois Ritter von Negrelli (1799 - 1858) entwarf die Pläne für den Suez-Kanal, die später vom Franzosen Lesseps verwirklicht wurden, ohne daß dieser übrigens bei der Eröffnung auch nur mit einem Wort erwähnte, von wem die Pläne eigentlich stammten. Beide Personen gehören also entweder eher in den Bereich der "normalen" diplomatischen  Beziehungen oder in den  kulturellen Bereich im weitesten Sinn.

Warum „Aegyptischer Struwwelpeter“

Beziehungen Österreich - Ägypten

Unter den zahlreichen Bearbeitungen des Struwwelpeters ist die exotischste wohl „Der Aegyptische Struwwelpeter“, der von einem Autorenteam aus der österr.-ungar. Monarchie stammt. Warum nun gerade verlegten sie diese Geschichten nach Ägypten? Besondere histo­rische Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern bestanden schließlich nicht, eher kultu­relle, wie ich bereits andeutete. Diese reichen allerdings bis in die Zeit zurück, als Wien noch Vindobona  hieß. (Etwa um Chr. Geb. nahmen die Römer dieses Gebiet in Besitz.)

Bei Bauarbeiten im Jahr 1800 stieß man im Zentrum der Stadt auf römische Funde. Das war nun nichts außergewöhnliches, das war fast schon „normal“ in Wien. Das Besondere an diesem Fund war aber, daß auch eine altägyptische Steinskulptur unter den sichergestellten Funden war. Sie stammt aus der Zeit um etwa 1200 v. Chr. und war vermutlich als eine Art „geistlicher Gesandter“ Ägyptens nach Vindobona gebracht worden. Es gab im römischen Reich zahlreiche Kultstätten für die Ägyptischen Götter Isis und Serapis.

Mitte des 16. Jahrhunderts kam auf dem Umweg über Konstantinopel ein weiteres kostbares Stück nach Wien. Im Jahr 1801 erwarb der Österreicher Freiherr von Hammer-Purgstall (1774 - 1856) als Angehöriger des diplomatischen Dienstes in Saqqara eine Stele. Er machte sie der „Orientalischen Akademie“ zum Geschenk, von wo sie auf unbekannte Art und Weise im habsburgischen Münz- und Antikenkabinett landete. Die Orientalische Aka­demie war von Kaiserin Maria Theresia gegründet worden und ist die heutige Diplomatische Akademie. Hammer-Purgstall war auch der Begründer der Wiener Akademie der  Wissen­schaften und deren erster Präsident (1847 - 1849). Er erwarb sich große Verdienste um die österreichische Orientalistik, besonders der Turkologie, und übersetzte zahlreiche orienta­lische Dichtungen, z. B. den „Diwan“ des Hafiz. 

1809 eroberte Napoleon Wien und die französische Armee machte vom Recht des Siegers Gebrauch, d. h. es wurden in Wien soviel wertvolle Kunstschätze als möglich kon­fisziert und den französischen Museen einverleibt. Nach dem Untergang Napoleons kam es aus politischen und diplomatischen Gründen nicht zu einer Rückstellung der geraubten Schätze, sondern es wurden Tauschobjekte angeboten. Gott sei Dank konnte aber das Münz- und Antikenkabinett, in dem sich auch die ägyptischen Altertümer befanden, zum Großteil rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Die trotzdem daraus beschlagnahmten Stücke wurden glücklicher Weise wieder zurückgegeben.

1824 wurde ein Subinventar für die ägyptischen Bestände des Münz- und Antiken­kabinetts erstellt, das 3770 Nummern umfaßte. Der Großteil der Objekte waren Schenkungen der verschiedenen Gesandten in Konstantinopel und Kairo, wobei diese nicht selbst als Aus­gräber tätig waren, sondern bei Antiquitätenhändlern die Stücke erwarben. Aber auch zahl­reiche Kaufleute, Bankiers und andere Wirtschaftstreibende der österr.-ungar. Monarchie machten großzügige Schenkungen dem Haus Habsburg.

1869 wurde der Suez-Kanal eröffnet, der nach Plänen des Österreichers Negrelli (1799 - 1858) von dem Franzosen Lesseps gebaut worden war. Kaiser Franz Joseph I. erhielt bei dieser Gelegenheit vom österreichischen Techniker Lucovich drei Papyrusbündelsäulen aus der 18. Dynastie (ca. 1551 - 1306 v. Chr.), die beim Neubau des k. k. Hofmuseums (heute Kunsthistorisches Museum) in die ägyptischen Säle tragend eingebaut wurden.

Bereits bei Regierungsantritt Kaiser Franz Josephs plante man die Errichtung reprä­sentativer Bauten für die kaiserlichen Sammlungen. Im Zuge der Gestaltung der Wiener Ringstraße sollte dieses Projekt großartig realisiert werden. Es wurde ein Wettbewerb ausge­schrieben, wobei aus der Fülle der Beiträge der Entwurf des Wiener Architekten Carl von Hasenauer (1833 - 1894) ausgewählt wurde. Der international anerkannte aus Hamburg ge­bürtige Architekt Gottfried Semper (1803 - 1879) wurde mit der Überarbeitung dieses Ent­wurfs und dessen Ausführung beauftragt. Der Entwurf sah  neben einem neuen Doppeltrakt der kaiserlichen Burg je ein Hofmuseum für die habsburgischen Kunstsammlungen aller Sparten und die reichen naturkundlichen Sammlungen vor. Semper und Hasenauer waren auch die Künstler, die entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung der Wiener Ringstraße - eine Prachtstraße - ausübten. Der Rohbau beider Museen wurde 1871 bis 1877 errichtet; das Kunsthistorische Museum wurde im Oktober 1891 im Beisein des Kaisers und zahlreicher Mitglieder des Hofes eröffnet .

Anläßlich der Wiener Weltausstellung 1874 wollte Ismail Pascha, Vizekönig von Ägypten, sein Land eindrucksvoll und vor allem eigenständig präsentieren. Ägypten stand immer noch unter türkischer Oberhoheit, daher verfolgte diese Repräsentation nicht nur kulturelle sondern auch handfeste politische Zwecke. Die unverwechselbare pharaonische Kultur sollte den ägyptischen Anspruch auf Eigenstaatlichkeit unterstreichen.

Der konkurrenzlose Spezialist Ernst Weidenbach wurde beauftragt, die detailgetreue Kopie eines ägyptischen Fürstengrabes im Ausstellungsgebäude anzufertigen. Nach dem Ende der Weltausstellung wurden die Weidenbach-Malereien gekauft (sie waren auf Papier gemalt) und auf den Saalwänden des neuen Museums aufgebracht Auf eben diese Malereien werde ich später noch einmal zurück kommen.

Unter vielen prominenten Gönnern und Käufern ägyptischer Kunstwerke für das Haus Habsburg war einer der prominentesten der Thronfolger Kronprinz Rudolf. 1881 er­wirbt er auf einer Ägyptenreise sechzig Objekte und stiftet sie der Sammlung.

Ein Kuriosum, das heute unvorstellbar ist, sei hier unbedingt erwähnt. 1891 war ein sensationeller Fund in Dêr el-Bahari, ca. 25 km nördlich von Gizeh, gemacht worden, ein in­taktes Grab mit 153 Särgen. Der Fund war so gewaltig, daß die Magazine des damaligen Museums in Gizeh nicht ausreichten. Die Ägyptische Regierung faßte nun den bemerkens­werten Entschluß, eine Anzahl von Fundgruppen an 17 Museen in Europa und den Verei­nigten Staaten zu verschenken. Dies wurde 1893/94 durchgeführt. Die Objektgruppen wurden den diplomatischen Vertretern der einzelnen Staaten durch Los zugeteilt. Der öster­reichische "Losgewinn" fiel an das Kunsthistorische Museum, der Gewinn für die Vereinigten Staaten steht heute in Washington, im Smithsonian Institute. - Welche Regierung würde heute eine solche wahrhaft großzügige Entscheidung treffen?

"Alle Welt" sprach also von Ägypten, immer wieder wurde in Zeitungen und Zeit­schriften über neue, sensationelle Ausgrabungen berichtet, und Ausgrabungen gab es en masse, nicht immer allerdings echt. Jeder, der auf sich hielt und es sich leisten konnte (oder auch nicht!), hatte etwas Antikes zu Hause im Salon stehen. Ebenso bekannt und praktisch in jedem Haus vorhanden war der Struwwelpeter. Es war also nur ein Funke notwendig, um diese beiden Komponenten zu einem gelungenen Scherz zu vereinen.

Die „Autoren-Compagnie“ Fritz, Richard und Magdalene  Netolitzky

Familie Netolitzky

Um 1870 hatte die österr.-ungar. Monarchie eine Größe von 676.615 km², das ent­spricht ungefähr der Fläche von Minnesota, North-Dakota, South-Dakota und Maine zu­sammen (oder fast doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland). Dieser Vielvölkerstaat bot nicht nur die Vorteile der gegenseitigen Beeinflussung ver­schiedener Kulturen, er hatte auch viele Nachteile, vorallem wenn man Beamter war und immer wieder versetzt werden konnte. Zu den Kosten der Übersiedlungen kam noch die Sorge um die Ausbildungsmöglichkeiten der Kinder, besonders wenn ein Universitätsstudium geplant war.

Die Familie Netolitzky war seit dem frühen 18. Jahrhundert. in Rokitnitz (Ostböhmen) ansässig und wohlangesehen. Rokitnitz war bis zum Ende des 1. Weltkrieges ein rein deutschsprachiger Ort, wo der Großvater von Fritz Netolitzky neben der Land­wirtschaft das Gewerbe des Lebzelters und Wachsziehers ausübte. Seine beiden  Brüder waren aber bereits Ärzte. Einer von ihnen folgte in dieser Funktion nach den napoleonischen Kriegen einem russischen Fürsten auf dessen Güter in der Nähe von Kiew und verblieb dort. Dieser „russische Onkel“ spielte in der Familientradition eine große Rolle und wurde immer für den “Zug in die weite Welt“ verantwortlich gemacht, dem auch Fritz Netolitzky letztlich nachgegeben hat.

Die Eltern der Autoren waren Dr. med. August Netolitzky und Hedwig v. Stein aus Berlin. August Netolitzky studierte in Prag und heiratete dort die Tochter des Universitäts­professors der Zoologie, Friedrich Ritter von Stein, der aus einer Pastorenfamilie in der Mark Brandenburg stammte.

Dieser Ehe entstammen sieben Kinder, die ältesten drei sind das Autorenteam, das für den Aegyptischen Struwwelpeter verantwortlich zeichnet. Magdalene, die Älteste, wird 1872 geboren, Richard 1873 und Fritz am 1. Oktober 1875, in Zwickau in Böhmen.

Vom Großvater mütterlicherseits, der zugleich sein Taufpate war, hatte Fritz die Liebe zur Natur, die scharfe Beobachtungsgabe sowie die Sammelleidenschaft geerbt. Mit ihm gehen er und Bruder Richard auf Schmetterlings- und Käferfang, durch ihn lernen sie das Mikroskop kennen. Als dieser Großvater starb, war Fritz zwar erst 9 Jahre alt, die Erinne­rungen aber so stark und prägend, daß sie sich bestimmend für seinen späteren Lebensweg erwiesen.

Die Kindheit im zahlreichen Geschwisterkreis in verschiedenen deutschen und tsche­chischen Städten Böhmens, war eine sehr glückliche und naturverbundene, fast ohne jeden gesellschaftlichen Schliff. Als besonders charakteristisch empfand Fritz einen Wunschtraum, den er im Alter von ca. 10 Jahren hatte. Er lag auf einer Wiese und hatte den unvorstellbaren Wunsch, einmal alles Lebendige auf einem Quadratmeter Wiese zu kennen und zu benennen - ein Wunschtraum, dessen Erfüllung wohl einige Spezialisten in Atem halten würde, wie er im Alter resigniert hinzufügte.

Studium und Werdegang von Fritz Netolitzky

Sein Vater wurde als Arzt und Beamter der Monarchie immer wieder versetzt, was kostspielige Übersiedlungen und mehrmaligen Schulwechsel zur Folge hatte. Das humani­stische Gymnasium begann er in Eger und es machte ihm mehr Mühe als Freude. In Eger wurde Deutsch gesprochen, er aber hatte in der Volksschule drei Jahre Tschechisch und nur ein Jahr Deutsch als Unterrichtssprache gehabt Nun kam zu diesen Schwierigkeiten noch das Unglück, in Latein und Griechisch einen „pädagogisch unerfreulichen Lehrer“ zu haben. Es war aber bezeichnend für ihn, daß er diesen Mann, unter dessen Verständnislosigkeit er oft litt, immer als „typisch magenleidend und daher verbittert“, entschuldigte. Die humanistische Bildung war für ihn trotz der eigenen schlechten Erfahrung etwas, das er für seine eigenen Kinder wünschte. Mit der Freiheit und Ungebundenheit, die er bisher genossen hatte, war es im Gymnasium vorbei, Basteln und Sammeln blieb aber trotzdem seine Leidenschaft. Die wilden Bubenspiele mit seinen Freunden und Bruder Richard wurden abgelöst vom Schwimmen, Eislaufen, Turnen und Radfahren, später kamen noch Bergsteigen und Schi­fahren dazu. Als Student wurde er auch zum eifrigen Photographen, der immer wieder Photos im Familienkreis machte.

Da der Vater in der Zwischenzeit wieder einmal versetzt worden war, diesmal ins Ministerium nach Wien, verbrachte er die letzten 2 Gymnasialjahre in Prag, fern von der Familie. Er wohnte allerdings als Pensionär zusammen mit einer Cousine bei Großmutter Emma von Stein, eine Lösung des Schulproblems, die damals weit verbreitet war. Von dieser Cousine stammt vermutlich auch das erste "Liebespfand", nämlich eine Haarlocke, die sich heute noch im Besitz seiner Enkelin befindet.  Im Prager Gymnasium rückte er unter anderen Lehrern zum besseren Durchschnitt auf und bestand die Matura am 13. Juli 1893 leicht.

Fritz folgte der Familie nach Wien und begann dort im Herbst d. J.  das Studium der Medizin, so daß die ganze Familie wieder vereint war. Dort konnte nun das traute Familien­leben  - unter äußerst knappen Verhältnissen  - wieder aufgenommen werden. Fritz führt sehr regelmäßig und genau Tagebuch und vermittelt einen sehr lebendigen Eindruck von den finanziellen Sorgen und Nöten der Familie, aber auch seine persönlichen Geldprobleme notiert er gewissenhaft. So hat er z. B. kein Geld,  um ein neues Heft für seine Tagebuchaufzeichnungen zu kaufen. Er macht nur kurze Notizen auf Zetteln, die er dann summarisch im Tagebuch nachträgt. Auch eine kostspielige Zahnbehandlung muß monate­lang aus Geldmangel aufgeschoben werden. Trotzdem herrscht in der Familie ein heiterer und liebevoller Umgangston. Die harmlosen Vergnügungen im Winter sind Eislaufen auf dem vom Hausmeister aufgeschütteten Wasser im Hof des Hauses oder Ausflüge mit Freunden mit der Dampftramway  nach Nußdorf, einer bis 1892 selbständigen Vorortgemeinde von Wien. Die jüngste Schwester Emma wird fürsorglich möglichst immer "vom Turnen abge­holt". Dieser Turnunterricht erfolgte vermutlich in einem der damals zahlreichen Turnvereine. Dem "Wiener Akademischen Turnverein" gehörte auch Fritz Netolitzky an. Diese "Akademischen Turnvereine" wurden an Universitäten gegründet und hatten eine ganz ähn­liche Struktur wie die Studentenverbindungen der damaligen Zeit. Dieser brüderliche Liebes­dienst hat aber nun auch den Vorteil, daß man Freunde und andere Mädchen trifft, unter ihnen auch meine Großtante Kitty von Gunz, eine Cousine meines Großvaters mütterlicherseits. Im Tagebuch wird vermerkt: "... Wir mußten die Emma von Gunzens abholen. Die Mädeln sollen ganz hübsch sein, ich habe sie fast nicht gesehen, Emma aber meinte, wir (gemeint sind Fritz und Bruder Richard) sollten jeder eine nehmen (es gab nämlich drei Schwestern ). Was die Weiber immer gleich für Gedanken haben. ..."

Als der Vater wieder versetzt wird, bleiben die Studenten Fritz und Richard in Wien und werden von Frau Gersuny unter die Fittiche genommen, d. h. sie sorgt bisweilen für die Wäsche oder  lädt die Brüder zum Essen ein. Sie nehmen auch weiterhin am Französisch- und Englischunterricht teil, der in ihrem Haus stattfindet. In ihrem Haus werden sie in die Ge­sellschaft, nicht zuletzt durch den Tanzunterricht eingeführt. Frau Gersuny läßt sogar den in knappsten Verhältnissen lebenden Brüdern manchmal 5 Gulden zukommen, "damit sie sich auf den Bällen besser unterhalten können". Diese Verbindung ist für die Entstehung des Aegyptischen Struwwelpeter von entscheidender Bedeutung.

Am 23. März 1899 wird Fritz zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert und dient anschließend daran als Einjährigfreiwilliger  bei den Kaiserjägern, einer Elitetruppe der Monarchie, in Wien und dann als Assistenzarztstellvertreter in Innsbruck. Hier war er von 1899 bis 1904 Assistent am Pharmakologischen Institut der Universität. In dieser Zeit legt er auch die Physikatsprüfung ab, die ihn berechtigt, die Stelle eines Amtsarztes zu übernehmen. Einen anschließenden einjährigen Urlaub verwendet er zu einer Studienreise als Schiffsarzt eines kleinen Dampfers der deutschen "Kosmos-Linie" in Hamburg längs der Westküste Südamerikas. Diese Gelegenheit war ein ausgesprochener Glücksfall, denn normaler Weise mußten die Schiffsärzte mehrjährige Verträge abschließen, in diesem Fall beschränkte sich der Vertrag auf eine bestimmte Reise. Darüber berichtet er später in den "Innsbrucker Nach­richten" vom 12. Februar 1903. Nach seiner Rückkehr 1902 arbeitet er ein Semester lang an der Universität Straßburg im Pharmakologischen Institut und im Institut für physiologische Chemie.

1904 erfolgt seine Ernennung zum Assistenten an der "K. k. allgemeinen Unter­suchungsanstalt für Lebensmittel" in Graz, die mit dem Hygienischen Institut der Universität verbunden war. Er habilitierte sich im darauffolgenden Jahr für Pharmakognosie und Mikro­skopie der Nahrungsmittel an der Grazer Universität und kam 1910 als Adjunkt an die Unter­suchungsanstalt für Lebensmittel der damals noch österreichischen Universität Czernowitz, wobei seine Venia Docendi an die dortige Universität übertragen wurde. 1912 wurde er hier zum wirklichen a. o. Professor für Pharmakognosie ernannt. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges unterbrach 1914 seine Tätigkeit in Czernowitz, da er zum Kriegsdienst einrückte. Zunächst war er als Oberarzt an der Karpathenfront, dann als Regimentsarzt in der Salubritätskom­mission in Südtirol. Diese Kommission war für die Gesundheit der Soldaten im weitesten Sinn verantwortlich. Für die Seuchenbekämpfung im Kriegsgebiet erhielt er den Franz-Josephs-Orden. Kurz vor Kriegsende wurde er zum Mitglied des Fachkommittees des k.k. Amtes für Volksernährung ernannt und der Landwirtschaftlich-chemischen Versuchsstation in Wien zugeteilt.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 ging er wieder nach Czernowitz, um dort im Einvernehmen mit der österreichischen Unterrichtsbehörde an der inzwischen rumänisch gewordenen Universität seine frühere Professur zu übernehmen. Er wurde rumänischer Staatsbürger und "Professor titular" (entsprechend unserem Ordinarius) an der Pharmazeutischen Sektion der Naturwissenschaftlichen Fakultät. Netolitzky wollte weiter als Deutscher in Rumänien bleiben und dort lehren. In diesem Entschluß wurde er zunächst durch den bestehenden Plan bestärkt in Hermannstadt (heute Sibiu) für die Siebenbürger Sachsen  eine deutsche Fakultät zu schaffen. Siebenbürgen war seit 1918 rumänisch und man wollte dadurch die kulturelle Bedeutung dieser deutschen  Minderheit  betonen. Aus diesem Plan wurde nichts und er erhielt die Leitung des Pflanzenphysiologischen Instituts der Uni­versität Czernowitz.

Bereits 1904 hatte Netolitzky  Katharina Edle von Gunz (1880 - 1935), eine Cousine meines Großvaters, geheiratet. Aus dieser sehr glücklichen Ehe waren bereits fünf Kinder vorhanden, und nun wiederholte sich für ihn das Problem, vor das auch sein Vater gestellt war: eine möglichst gute, deutschsprachige, wenn möglich humanistische Erziehung. Das alles ließ sich unter den  unsicheren politischen Verhältnissen und bei knappen Geldmitteln nur schwer oder gar nicht verwirklichen. So entschied er sich 1919 in Czernowitz zu bleiben, während die Familie nach Wien zurückkehrte. Er hatte immerhin die Hoffnung einer Beru­fung nach Wien, die ihm kurz nach Kriegsende von österreichischer Seite gemacht worden war. Leider erfüllte sich diese nicht, und so begann eine für die ganze Familie schwierige Zeit. Er selbst bezeichnete sein Leben als das eines "Kapitäns auf großer Fahrt". Uninfor­mierte Leute hielten die Ehe sogar für geschieden. Zwei Drittel des Jahres lebte er in seinem Institut in Czernowitz: ein schmales Feldbett und mäßige Betreuung durch einen ältlichen Diener, Essen in einer bescheidenen Gastwirtschaft, das dritte Drittel - die Hochschulferien - verbrachte er in Wien bei Frau und Kindern. Die gemeinsame Zeit nutzte er intensiv, er war ein liebevoller Vater, der aus der eigenen Phantasie heraus und aus seiner Kenntnis von Ge­schichte und Literatur zahlreiche Geschichten für seine Kinder erfand. Aber auch Kenntnisse aus Wissenschaft  und Literatur vermittelte er ihnen oftmals lange vor dem entsprechenden Unterricht in der Schule. So las er ihnen z. B. den "Faust" vor, und von der Relativitätstheorie hörten sie lange, bevor solche Dinge in der Schule auch nur erwähnt wurden. Die Situation für seine Familie war äußerst schwierig, die Zeiten waren schlecht und außerdem konnte sein Gehalt nicht legal überwiesen werden. Trotz dieser widrigen Umstände absolvierten vier seiner fünf Kinder ein Hochschulstudium.

1935 starb seine Frau, aber die leidenschaftliche Sehnsucht nach einem behaglichen Zuhause veranlaßte ihn 1939, wieder zu heiraten. Seine Frau ist eine langjährige Bekannte, Frau Luise Duesterberg, geb. Langenhahn, eine Kriegerwitwe aus dem ersten Weltkrieg. Als die Russen 1940 die Bukowina und damit auch Czernowitz besetzten, befand er sich mit seiner Frau  glücklicher Weise gerade außerhalb der Stadt. Unter Zurücklassung ihrer ge­samten Habe flüchteten sie zu Fuß über das Gebirge in das rumänisch gebliebene Sieben­bürgen, nach Hermannstadt. Dort wurde er Ende des Jahres infolge Erreichung der Alters­grenze von 65 Jahren von der rumänischen Unterrichtsbehörde in den Ruhestand versetzt. Von hier aus sind beide als rumänische Volksdeutsche im Jahr 1941 in das Deutsche Reich umgesiedelt worden. Sie wurden im von Deutschland besetzten Polen in Litzmannstadt/Lódz eingebürgert. Die Universität  Königsberg erhielt den Auftrag, Netolitzky als Professor des Ruhestandes zu betreuen und durch eine "laufende Unterstützung", die einer Art Pension ent­sprach, zu versorgen. In dieser schwierigen Zeit zog es ihn sehnlichst nach Wien, zu seinen Kindern, aber auch zu den reichhaltigen wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten, die in Lódz gänzlich fehlten. Auf Betreiben des damaligen Rektors der Wiener Universität und Direktors des Botanischen Institutes und Gartens Prof. Fritz Knoll, bei der Berliner Unter­richtsbehörde gelang es noch im selben Jahr, diesen Herzenswunsch zu erfüllen. Noch im Sommer 1941 konnte er mit seiner Frau nach Wien übersiedeln. Er erhielt auch einen Lehrauf­trag für Pharmakognosie an der Philosophischen Fakultät. Seit dem Sommersemester 1943 hielt er auch Vorlesungen über Geschichte und Wesen der Volksheilmittel und beteiligte sich auch an Heilkräuter-Exkursionen für Studenten der Medizin. Trotz steigender äußerer Schwierigkeiten infolge der Kriegszeit, hat er andauernd und erfolgreich wissenschaftlich ge­arbeitet. Am 5. Januar 1945 setzte ein Herzschlag auf offener Straße seinem arbeitsreichen Leben ein plötzliches Ende. 

 

Entstehung des Aegyptischen Struwwelpeter

Tagebucheintragung vom Donnerstag den 19. October 1893

"Als ich um 2 Uhr aus den Vorlesungen kam, erwartete mich die furchtbare Nach­richt, daß ich die Tanzstunde bei Gersunys besuchen müsse, wo Billroths, Nothnagels, Tolds etc. Unterricht nehmen werden. Das wird schön werden, ich gratuliere. Andere Schmerzen haben die nicht!..."

Was hat nun diese Tanzstunde bei Gersunys mit dem Aegyptischen Struwwelpeter zu tun? Tanzen zu können gehörte damals einfach zur Erziehung ab einer gewissen sozialen Schicht. Dieses Problem wurde meist so gelöst, daß befreundete Familien abwechselnd in den eigenen Räumen oder immer bei derselben Familie private Tanzstunden abhielten. Sie engagierten dazu einen "Tanzmeister" und einen Klavierspieler, und das Vergnügen konnte beginnen.

Wer waren nun "Gersunys", bei denen die Brüder Netolitzky und auch Magda die Tanzstunde besuchten? Dr. Robert Gersuny (1844 - 1924) war ein angesehener Wiener Arzt, ein Chirurg, der eng mit Theodor Billroth zusammenarbeitete. Theodor Billroth (1829 - 1894) war ein bedeutendes Mitglied der Wiener Medizinischen Schule, der bahnbrechendes leistete. Unter anderem führte er die Mischnarkose aus Äther und Chloroform ein und erfand den sgn. "Billroth-Batist", einen wasserdichten Verbandstoff. Die wirkungsvollste Einrich­tung, die auf seine Initiative zurückgeht und auch heute noch besteht, ist das "Rudolfinerhaus". Diese Ausbildungsstätte geht auf eine Stiftung des Thronfolgers Kronprinz Rudolf zurück. Es ist dies eine Schule zur Heranbildung von Krankenpflegerinnen, die Billroth selbst bis zu seinem plötzlichen Tod leitete. Dr. Gersuny übernahm nach Billroths Tod die Leitung der Anstalt. Er entwickelte aber  auch chirurgische und gynäkologische Ope­rationsmethoden, und auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie war er führend.

Aus den Tagebuchaufzeichnungen von Fritz Netolitzky geht nun hervor, daß das Ehepaar Gersuny - entgegen bisher anders lautender Informationen - selbst einen Sohn namens Eduard hatte, der etwa gleich alt war wie Fritz und Richard. Die Familien waren über den Beruf der Väter schon lange befreundet und auch der Vater seiner späteren Frau - meiner Großtante - war ein bekannter Wiener Arzt, der sich besonders der Armen annahm. Gersunys führten ein gastfreundliches Haus, in dem zahlreiche bekannte und bedeutende Per­sönlichkeiten der Wiener Gesellschaft verkehrten, unter ihnen auch Marie von Ebner-Eschenbach.

Interessanter Weise bringen sie am Nachmittag des 24. Dezember 1893 ein Buch ins Haus Gersuny, im Tagebuch heißt es dazu  :

" ... Nachmittag mußten wir selbst aber hin, da wir einen Strubelpeter hinbringen mußten, den die Magda auf dem Heimwege gekauft hatte, da der Edmund keinen gefunden hatte. Wahrscheinlich hat er ihn in Caffehäusern gesucht. ... "

Für wen dieses Buch bestimmt ist, geht nicht hervor, wahrscheinlich für ein kleines Kind im Bekanntenkreis der Gersunys.

Weiter heißt es nun im Tagebuch über die Feier im Familienkreis: "Die Feier selbst war sehr schön  und von allen Geschenken, wie sehr mich auch jedes einzelne freute, rührte mich besonders ein Geschenk der Gersuny, ein Buch! Man sollte es nicht glauben, da frißt und säuft man wie ein Scheunendrescher, tanzt ganz umsonst und dann macht sie einem noch Geschenke! Da muß man ihr auch einen Gefallen tun! Aber was?... Ja, auch Richard und Magda haben Bücher von der Gersuny, der ’Tanztante’ bekommen..."

Am 26. Dezember heißt es: ...Für die Gersuny wollen wir eine ägyptischen Strubel­peter machen. Den ’bitterbösen’ Friederich haben wir schon. Meine Idee. ...

 27. Dezember 1893: " ... Abends holten wir die Emma vom Turnen ab, und während wir so warteten und den Strubelpeter besprachen, kam mir der gloriose Gedanke, den ’Hans Guckindieluft’ in ein Mädchen zu verwandeln, welches sich nach Studenten umdreht. Der ganze Gedanke stammt überhaupt von mir, das kann famos werden. ..."

29. Dezember 1893: " ...’Der Robert’ für die Gersuny wird in einen verwandelt, der mit der Krinoline seiner Mutter im Samum herumläuft. (Auch meine Idee, Richard führt es immer aus) ... Hätten wir Geld gehabt, so hätten wir bei einem Schoppen (ein Glas Wein oder Bier) über den Strubelpeter nachgedacht, so mußten wir aber schön nach Haus gehen, wo wir dann eine Partie Halma spielten."

30. Dezember 1893: " ... Beim Lernen rauchte ich die Pfeifenspitze von Richard an, wobei mir der Gedanke kam, aus [recte: daß] Paulinchen in einen verwandelt wird, der über die Pfeife von seinem Vater kommt, und Richard machte aus dem Suppenkaspar den Walzer­ramses.

In die Universitätsbibliothek und in den Rede- und Leseverein der deutschen Hoch­schüler in Wien "Germania" gehen die Brüder zwecks Studien, aber auch zum Privatver­gnügen. Sie lesen dort in vorlesungsfreier Zeit und entlehnen Bücher. Am 5. Jänner 1894 sind sie in der Universitätsbibliothek, " ... wo Richard im Uhlemann zum Strubelpeter suchte, während ich in einer zweibändigen Geschichte Indiens blätterte. Dann machte ich mich auch über Ägypten her und das Buch fesselte mich derart, daß ich mir vornahm, bald wieder drin zu lesen.

Am 10. Jänner 1894 steht im Tagebuch " ... und die Magda zeichnete einige Bilder zum Strubelpeter, die auch sehr gut sind, da sich Magda im Museum (K. u. k. Hofmuseum) von Originalen Copien gemacht hat. Bei diesen Originalen handelt es sich um die bereits er­wähnten Malereien von Ernst Weidenbach, die auch heute noch zu bewundern sind.

Eifrig tragen die Geschwister Informationen über Ägypten aus verschiedenen Büchern zusammen, damit alles seine Richtigkeit hat, und die Arbeit nimmt in der Freizeit ihren Fortgang.

Sonntag, 28. Jänner 1894: " ... Während Richard unten im Garten lernte, schlief ich auf dem Sofa den Schlaf des Gerechten, bis ich endlich um 4 Uhr des Guten genug getan hatte und einige Blätter für den Strubelpeter anfertigte."

Freitag, 2. Februar 1894: " ... Statt ins Kaffee zu gehen, wie wir zuerst vorhatten, ar­beiteten wir am Strubelpeter, der ja bis Ende Februar fertig sein muß. Papa scheint es selbst zu gefallen."

Frau Gersuny sollte das Buch wahrscheinlich wirklich als Geburtstagsgeschenk er­halten, da es bis Ende Februar fertig sein soll, wie ich auf Grund des Eintrags weiß, es war aber wahrscheinlich der  40. Geburtstag und nicht der 60. oder 70. wie bisher angenommen. Diese Zahl ergibt sich, wenn man die Lebensdaten ihres Mannes nimmt, das ungefähre Alter des Sohnes und den durchschnittlichen Altersunterschied bei Ehepaaren der damaligen Zeit in dieser sozialen Schicht mit 8 - 10 Jahren ansetzt.

Samstag, 3. Februar 1894: " ... Dann wurde gefaulenzt und Papier für den Struwwel­peter fabriziert, bis wir ins Bureau um Correcturen gehen mußten ..."

Das Motto in einem der Tagebücher von Fritz lautet: "Ein schlechter Spiegel, der nur das Schöne zeigt. Noch schlechter ein Tagebuch, welches die Fehler verschweigt." Getreu diesem Wahlspruch trägt er auch seine Gedanken über verschiedene Mädchen ein, die ihm gefallen, so gibt es auch einen Eintrag über meine Großtante: " ... aus diesem Grund ver­säumten wir auch Gunzens, was mir leid tat, da ich die Kitti gern kennen gelernt hätte, in welche ich verliebt zu sein scheine, ohne sie gesehen zu haben. Das ist doch zu dumm, ei­gentlich schon blöd. ... "  (Es dauert übrigens noch mehr als 10 Jahre, bis Fritz Netolitzky am 10. November 1904 meine Großtante heiratet.)

Als die Nachricht vom Tod Prof. Billroths in Wien eintrifft, endet auch die Tanz­stunde bei Gersunys, was Fritz außerordentlich bedauert. Die Bemerkungen über seinen Ein­stellungswandel lassen fast vermuten, daß er das Vorbild für den "Walzerramses" gewesen ist.

Sonntag, 25. Februar 1894: " ... Nachmittag ’machte’ ich Papier für den Strubelpeter und faulenzte dann in einer furchtbaren Weise, was einem sehr wohl tut, wenn man sich die ganze Woche geschunden hat. ... "

Trotz sorgfältigster Durchsicht der Tagebücher von Fritz Netolitzky fand sich keine Eintragung, wann der "Aegyptische Struwwelpeter" überreicht worden ist. Es muß jedenfalls vor dem 12. April 1895 gewesen sein. Mit diesem Datum existiert nämlich noch eine Origi­nalvisitenkarte von Dr. Gersuny, auf der er Magda folgendes mitteilt: Liebes Fräulein Magda! Der Verleger möchte das egyptische Buch Ende April nach Leipzig nehmen, jedoch verlangt er die Aenderung des Titels in Egypt. Struwwelpeter und als erstes Blatt statt des Gigerl-Typhon ein dem Titel entsprechendes. Wird die Autoren-Compagnie dies leisten wollen? Herzlichen Gruß! R. Gersuny

Typhon ist eigentlich eine Gottheit der griechischen Mythologie, und zwar der jüngste Sohn von Gea und Tartaros. Er wird als Riese mit 100köpfigem Schlangenkopf dar­gestellt und  wurde bei den Ägyptern  mit Gott Seth identifiziert.

Ein erster Hinweis auf den tatsächlichen Druck stammt vom 27. Oktober 1895. Dr. Gersuny überbringt 150 Gulden als Honorar für die Autoren-Compagnie. Die Freude der Geschwister ist riesig, auch wenn sie noch keine Exemplare in der Hand haben, sind sie doch für die nächsten Tage versprochen. Lithographie und Druck erfolgten bei Nister in Nürnberg, verlegt wurde bei Gerold & Sohn in Wien.

Wer veranlaßte nun den Druck dieser Parodie? Frau Gersuny legte das originelle Ge­schenk im Salon zur Ansicht auf, um es  ihren Gästen zu zeigen. Unter den zahlreichen Gästen war auch die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach, geb. Gräfin Dubsky (1830 - 1916), die zu dieser Zeit bereits eine bekannte und markante Persönlichkeit der Wiener Ge­sellschaft ist. Sie kann ihren eigenen Verleger - eben Gerold & Sohn - dazu überreden, das Buch herauszubringen. Infolge ungenügender rechtlicher Absicherung kam es aber zur Klage von Rütten & Loening, dem Originalverlag des Struwwelpeters. In der Verlagsgeschichte von Rütten & Loening, die ich auf Hinweise bezüglich der Plagiatsklage gelesen habe, findet sich nicht ein einziger Hinweis auf diese Sache. Ich fürchte auch, daß in den Archiven keine Un­terlagen mehr diesbezüglich vorhanden sind. Der Verlag wechselte nämlich mehrmals im Verlauf seines Bestehens den Sitz, sowohl innerhalb Frankfurts als auch innerhalb Deutsch­lands. Die größten Verluste im Verlagsarchiv entstanden in den letzten Kriegsmonaten. Nach Templin ausgelagertes Material (ca. 60 km nördl. von Berlin), war "zum Zuschütten von Luft­schutzgräben im Wald" verwendet worden. Als man es endlich wieder ausgraben konnte und wollte, war es zum Großteil verdorben. Weitaus kostbarere Dinge als ein diesbezüglicher  Briefwechsel gingen dabei zugrunde, nämlich Bücher, Originalmanuskripte, Verträge u.v.a.

Warum so wenig von diesem Prozeß in die Öffentlichkeit gelangt ist, kann ich nur vermuten. Die unmittelbar beteiligten Personen - Dr. Gersuny und Marie von Ebner-Eschen­bach standen ja im Blickpunkt der Gesellschaft. Vielleicht wollte man einen "Skandal" ver­meiden, und hat die ganze Sache ohne Öffentlichkeit abgemacht. Das Archiv von Gerold & Sohn befindet sich in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Frau Dr. Luitgard Knoll, eine Enkelin von Fritz Netolitzky, hat schon 1975, anläßlich der Neuauflage bei Kindler in Mün­chen, die Materialien für den betreffenden Zeitraum durchforscht, fand aber leider auch keinen Hinweis auf den Vorfall.

Nach dem Tode Frau Gersunys kam das Original des Aegyptischen Struwwelpeters an die Familie von Magda Netolitzky, verh. Kuzmany, zurück. Dort existierte es auch bis April 1945, bis durch einen Bombentreffer die Wohnung ausbrannte und auch das Original, der sgn. "Urstruwwelpeter" verbrannte. Der Verlust ist um so bedauerlicher, als es im Original eine Geschichte mehr gab, als in der gedruckten Auflage, und zwar zum Zappelphilipp. In dieser Geschichte wurde die Rekrutenausbildung verulkt, und 1895 war es auch in der österr.-ungar. Monarchie nicht ratsam, die heilige Institution Militär zu persiflieren. Mündlich über­liefert ist nur die letzte Zeile,  und die klingt frevelhaft genug: "Pereat das Militär!" (d.h.: Nieder mit dem Militär!)

Wissenschaftliche Arbeiten

Die Botanik ist aus der Heilkräuterkunde der alten Medizin hervorgegangen. Die Botaniker früherer Zeiten waren daher oftmals Ärzte und es gibt eine große Zahl botanischer Forscher unter ihnen. Der bekannteste dürfte wohl der Schwede Karl von Linné sein (1707 - 1778). Netolitzky war ebenfalls ursprünglich Arzt, blieb aber doch trotz späterer rein bota­nischer Arbeiten der Heilkunde eng verbunden. Er hat über 300 größere und kleiner Arbeiten aus verschiedenen Fachbereichen veröffentlicht. Darunter befinden sich rein botanische Ar­beiten, aber auch Forschungsergebnisse zur Heilmittelkunde und Volksmedizin hat er veröf­fentlicht. Bei Durchsicht der Titel ist eine Affinität zu den alten Ägyptern übrigens nicht zu übersehen. Ein fast vollständiges Verzeichnis seiner wissenschaftlichen Arbeiten befindet sich in der Bibliothek der Zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien.

Jugendliterarische Arbeiten

Wie schon früher erwähnt, fand Netolitzkys eindeutig literarische Begabung nicht nur bei der Gestaltung des Aegyptischen Struwwelpeter ihren Niederschlag. Auch seine eigenen Kinder kamen in den Genuß des väterlichen  Talents, wenn er Geschichten erzählte. Aber noch bevor er eigene Kinder hatte, veröffentlichte er in Tageszeitungen kurze Erzählungen. So beschreibt er in den "Innsbrucker Nachrichten"  vom 12. Februar 1903 seine "Fahrt nach der Westküste Südamerikas. In verschiedenen anderen Tageszeitung wurden Naturschilde­rungen und Fachartikel von ihm veröffentlicht, so z. B. im "Czernowitzer Tagblatt", in der "Ostdeutschen Rundschau" oder 1939 in der "Deutschen Tagespost", einer Rumänischen Zeitung.

Für die weitverbreitete und äußerst langlebige Knabenzeitschrift "Der gute Kamerad" schrieb er unter dem Pseudonym Fritz Volker eine Reihe von Erzählungen in Fortsetzung. Neun dieser Geschichten erschienen als Einzelband unter dem Titel "Die Jagd unter der Erde"  bei Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart, die auch den "Guten Kameraden" herausbrachte. Diese illustrierte Jugendzeitschrift wurde 1887 gegründet, erschien bis 1933 wöchentlich, bis 1944 monatlich und schließlich von 1951 - 1970 als Jahrbuch. Dann stellte sie ihr Erscheinen ein.

"Die Hochwacht". Ein Blatt für das evangelische Jungvolk. Die Zeitschrift erschien in Österreich und Deutschland als Monatszeitschrift. Unter dem Namen Fritz Neto erschienen auch hier einige Erzählungen von ihm.

Bei allen Erzählungen für die Jugend sind eigene Kindheits- und Jugenderlebnisse verarbeitet, vorallem "Die Jagd unter der Erde" vermittelt eine gute Vorstellung der ungebun­denen Kindheit und Jugend von Netolitzky.  

Heinrich Hoffmann und der Struwwelpeter heute in Österreich

Überblick und Resümee über mein Projekt „150 Jahre Struwwelpeter“

Lassen Sie mich noch ganz kurz auf mein eigenes Projekt "150 Jahre Struwwelpeter" eingehen. Warum kam es überhaupt dazu? Geplant habe ich ursprünglich eine Schau meiner Sammlung in einigen Vitrinen einer Anstalt zur Ausbildung von Grundschullehrern. Die Sammlung erwies sich aber als so umfangreich, daß ein geeigneterer Platz gesucht werden mußte. Im Laufe weiterer Überlegungen entwickelte sich die einfache "Ausstellung" von Büchern zu einem "Projekt", das ich aber OHNE AUFTRAG durchführen wollte.

Das Vorhandensein zweier großer pädagogischer Anstalten (Pädagogische Akademie des Bundes in Niederösterreich und Bundesinstitut für Sozialpädagogik), zu denen ich in einem besonderen Verhältnis stehe, legte den Gedanken nahe, diese einzubinden. Die Biblio­thek  an der Pädagogischen Akademie ist meine Dienststelle, das Bundesinstitut für Sozialpädagogik absolvierte ich selbst zu einer Zeit, als die Ausbildung zum Erzieher in Österreich erst in den Anfängen war.

Die latent immer vorhandene Kontroverse um diese Figur ließ mich auf reges Inter­esse aus weiten Kreisen der Bevölkerung hoffen.

Am 18. Jänner 1845 ließ Hoffmann sich zur Veröffentlichung seines Bilderbuches "Lustige Geschichten und drollige Bilder..." überreden, es sind also genau 150 Jahre seit der Erstausgabe vergangen. Vor 100 Jahren wurde die bisher einzige österreichische Nachdich­tung veröffentlicht, der "Aegyptische Struwwelpeter", die Autoren stehen in verwandtschaftlicher Beziehung zu mir.

Insgesamt 10 Schulklassen aus meinem Heimatbezirk und aus benachbarten  Be­zirken  meldeten sich für Führungen an, die ich in meiner Freizeit durchführte. Anfängliche Ablehnung des Buches (bei der meistens die Worte von Erwachsenen herauszuhören waren) mancher Kinder verwandelte sich in Verständnis, wenn historische und soziale Hintergründe erklärt worden waren. Andere Schulklassen besuchten die Ausstellung ohne meine Führung, nur mit Hilfe eines aufliegenden Kataloges.

Bei einer Podiumsdiskussion herrschte bei allen Diskussionsteilnehmern Einigkeit, daß man dieses Buch heute nicht unreflektiert Kindern anbieten soll. Es stellt kein Erzie­hungsmittel dar, aber seine Figuren sind offensichtlich "pädagogische Archetypen", die wohl der Grund für die noch immer vorhandene Faszination dieses Buches sind.

Große Freude und Genugtuung bereitet mir die Tatsache, daß ich einen jungen Künstler zu einer Komposition anregen konnte, und junge Menschen die Gelegenheit er­hielten, sich mit dem heftig umstrittenen Kinderbuch kritisch auseinander zu setzen. Zu einer Welturaufführung kam es durch Schüler des Bundesinstituts für Sozialpädagogik. Prof. Martin Vogl textete und komponierte für dieses Projekt eine höchst kritische Interpretation des Struwwelpeter, die unter seiner Leitung durch die Schüler gekonnt und erfolgreich darge­boten wurde. Das Musical "Neues vom Struwwelpeter" bereichert die musikalische Literatur zum Thema.

Ein überraschendes Echo fanden die Veranstaltungen in zahlreichen Tages- und Wo­chenzeitungen.

Vier verschiedene Sendungen im Österreichischen Rundfunk brachten Berichte und Interviews: Kinderwurlitzer und Radioclub (Kindersendungen), Leporello (Kulturberichte) und Gugelhupf (Satirischer Wochenrückblick über Politik und Kultur).

Auch das Fernsehen zeigte nach durch mich erfolgter Information Interesse. Mini-ZIB (Nachrichtensendung für Kinder), Niederösterreich heute (Regionale Nachrichtensendung) und Seitenblicke (tägliche "visuelle Klatschspalte" über Kultur und Mode) brachten Repor­tagen.

Derzeit läuft die Ausstellung im nördlichen Niederösterreich, nach meiner Rückkehr wird sie in Tirol zu sehen sein. Anschließend wird sie noch einmal in Niederösterreich gezeigt werden.

An den Schluß meiner Ausführungen möchte ich ein Plädoyer für den Struwwelpeter stellen. Meine Erfahrungen im Zusammenhang mit der 1. Ausstellung und den nachfolgenden Ereignissen waren durchwegs positiver Natur. Abgesehen vom persönlichen Erfolg, hat mir diese Projekt so viele erfreuliche Erlebnisse gebracht, daß ich ein Sprichwort abwandeln kann: "Wenn einer eine Ausstellung macht, dann kann er was erzählen". Die größte Über­raschung in diesem Zusammenhang war sicher das Geschenk einer mir vollkommen fremden alten Dame, die im Fernsehen den Bericht über meine Ausstellung gesehen hatte. Sie schenkte mir eine Ausgabe der "Struwwelliese", die sie noch aus ihrer Kindheit aufbewahrt hatte. (Die Ausgabe stammt aus Anfang 1920.)

Ich bin für den "Struwwelpeter", unbedingt! Aber nicht nur aus den genannten Gründen und weil es eines der Bücher ist, das ich aus meiner eigenen Kindheit noch lebhaft in Erinnerung habe, sondern weil die einzelnen Geschichten eine Fülle von An­regungen geben, mit Kindern über verschiedene Dinge zu sprechen. Schon deshalb darf es seinen Platz im Bücherregal beanspruchen neben zahlrei­chen anderen Büchern, die ebenso einen Ver­mittler brauchen, d. h. gemeinsam gelesen werden wollen und sollen.

Anhang zum „Aegyptischen Struwwelpeter“

The Egyptian Struwwelpeter: being the Struwwelpeter papyrus; with full text and 100 original vignettes from the Vienna papyri; dedicated to children of all ages.

Unter diesem Titel erschien eine englische Übersetzung bei Grevel in London 1899, gedruckt bei Nister in Nürnberg, wo auch die österreichische Ausgabe entstanden war. Wahrscheinlich 1899 erschien auch eine amerikanische Ausgabe bei Stokes in New York, gedruckt ebenfalls bei Nister.

Egyptiläinen Jörö-Jukka

Veikko Pihlajamäki ist der Übersetzer des Buches ins Finnische, das 1993 in Tampere im Eigenverlag des Übersetzers herausgebracht wurde. Die gesamte Auflage von 1000 Stück wurde verkauft während einer Ausstellung über ägyptische Kunst im Museum in Tampere vom 30. August 1993 bis zum 2. Jänner 1994. Eine 2. Auflage erschien 1999 ebenfalls vom Übersetzer herausgebracht.

Ein mögliches Vorbild für die Bearbeitung des Struwwelpeters und seine Zeitreise in das alte Ägypten könnten auch die drei Aegyptischen Humoresken von Carl Maria Seyppel (1847 – 1913) gewesen sein. Der gebürtige Düsseldorfer hat bei Bagel  in Düsseldorf 1882 den ersten von drei sgn. Mumiendrucken herausgebracht mit dem Titel „Schlau, schläuer, am schläusten“. Die Humoreske beginnt:

Rhampsinit, Aegyptens König, aus der zwanz’ger Dynastie,
Hatte Schätze, ungewöhnlich viel, und hütet eifrig sie...

Der Einband trägt den Kopftitel „Ausgegrabenes Buch“. Dem Thema entsprechend gestaltet ist das Titelblatt. Auf einem riesigen Palmwedel, getragen von einem Diener, steht der Titel „Schlau, schläuer, am schläusten“. Von rechts nach links marschierend sind die Personen der Handlung dargestellt, als vorletzter in der Reihe wandelt ein Kopfloser. Weiter heißt es dann: 1. Aegyptische Humoreske. Niedergeschrieben und abgemalt 1315 Jahre vor Christi Geburt von C. M. Seyppel. Hofmaler und Poet seiner Majestät des Königs Rhampsinit III. Memphis, Mumienstraße Nr. 35, 3. Etage, 4x klingeln.

Gewidmet ist das Werk Herrn Dr. H. Schliemann in Athen. In der scherzhaften Vorrede wird beschrieben, daß ein für Archäologie schwärmender deutscher Gelehrte 1882 im Zuge der kriegerischen Ereignisse mit dem englischen Heer nach Kairo gelangte. Dort konnte er mit viel Glück bei den Plünderungen des Pöbels ein kostbares altägyptisches Buch vor der endgültigen Vernichtung bewahren. Es sei zwar vom Zahn der Zeit angenagt, aber immerhin die einzige Probe der Malerei und Dichtkunst der alten Aegypter. Die ausgefransten und scheinbar angesengten, fleckigen Seiten des Buches unterstützen nachdrücklich den Hinweis auf das hohe Alter des kostbaren Fundes. Diese 1. Humoreske war so erfolgreich, daß 1884 bereits die 5. Auflage erschien. 1883 erschien ein weiterer Band unter dem Titel „Er, sie, es“, über dessen Inhalt ich noch nichts herausfinden konnte. Der dritte Band erschien ebenfalls 1884, sein Titel lautet: „Die Plagen“ („Aufgeschrieben und abgemalt bei dem Auszuge der Juden aus Aegypten“) Durchaus nicht ungewöhnlich für diese Zeit ist die Geschichte nicht frei von antisemitischen Äußerungen. 1974 und 1982 erschienen Nachdrucke, 1974 bei Heimeran in München (Dialog mit der Antike. 3.), 1982 brachte der Rheinland-Verlag in Köln in der Reihe Schriften des Museumsvereins Dorenburg (Band 37) unter dem Titel „Carl Maria Seyppels altägyptische Trilogie“ einen weiteren Nachdruck heraus. Heinz-Peter Mielke war der Herausgeber. Ein Exemplar des 1. Bandes dieser Trilogie erhielt ich freundlicher Weise von einem Sammler als Geschenk, mit der Bemerkung, in meine Sammlung passe er eindeutig besser als in seine eigene. Der Text ist in Versen abgefaßt, stellenweise etwas holprig, wie auch die ganze Geschichte bisweilen makabre Züge aufweißt: der Gewinner bei der nicht ganz astreinen Geschichte muß seinem eigenen Bruder den Kopf abschlagen, damit ihre Schandtat nicht entdeckt wird. Vor kurzem ist es mir geglückt, eine andere Ausgabe dieses Bandes zu erwerben. Der Einband ist mit Sackleinen überzogen, der Buchblock ist mit einer Schnur zusammengenäht, die Enden des „Nähfadens“ sind mit einem dicken Siegel festgemacht. Ein ägyptischer Königskopf prangt in der Mitte des Siegels, die umlaufende Inschrift ist nur z. T. zu entziffern. Das Buch ist mittels Lederschnüren zu verschließen.

 

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