Kanji
KANJI (CHINESISCHE SCHRIFTZEICHEN)



Japan färbt ab. Nach zehn Monaten in Tokyo und einigen Reisen im Land muss ich feststellen, dass ich ein Stück weit japanisch geworden bin. Das merke ich vor allem daran, dass ich das, was mir früher fremd und merkwürdig vorkam, heute selbst praktiziere, bzw. nicht mehr wahrnehme. Ich bekomme wohl so langsam eine Sichtweise, die man positiv als Expertensicht, negativ als Tunnelblick bezeichnen würde. Ich bin immer weniger dazu in der Lage von irgendwelchen Merkwürdigkeiten zu berichten. Dinge, über die ich noch vor Monaten gelacht habe, sind alltägliche Begleiter geworden.
Als ich mich neulich in Singapur bei den deutschen Eltern einer Freundin für eine Einladung zum Abendessen bedankte, fingen alle plötzlich an laut loszulachen. Ich verstand nicht sofort, dann wurde mir klar, dass ich mich soeben verbeugt hatte! Wenn meine Freundin Elena, zu Besuch in Tokyo, in der Bahn neben mir sitzend die fremden Gesichter und Kleider aufmerksam betrachtet, wird mir das peinlich. "Bloss nicht die Anderen mit geraden Blicken belästigen", denke ich und fange schon an mich aufzuregen. Zum Glück ist es noch nicht so weit gekommen, dass ich den Platz wechsele, wenn sich ein Ausländer neben mich setzt (was Japaner oft tun, nicht aus offener Feindseligkeit, sondern weil es ihnen ungewohnt ist. Solch simple Erklärungsansätze fallen mir in letzter Zeit allerdings auch immer schwerer - es ist eben doch nicht so einfach).
Trotzdem bin ich natürlich noch mit voller Begeisterung dabei. Der vielbeschworene Kulturschock, der Punkt, an dem man Japan satt hat und einfach nur noch nach Hause möchte, hat sich bei mir bisher ebensowenig eingestellt wie bei den Mitstipendiaten. Es macht einfach zu grossen Spass. Diesmal gibt es einen Bericht über mein tägliches Brot, die japanische Sprache und die Schrift:

Das gesprochene Japanisch hat, was das Lernen betrifft, im Vergleich zum Deutschen einige Vorteile: Es gibt keine Fälle, keinen Plural und nur zwei Zeiten. Fehleranfällige Satzteile wie Artikel und Präpositionen gibt es nicht. Stattdessen existiert eine handvoll Partikel, hinter Wörter gehängte Silben, die z. B. ein Objekt, eine Bewegung oder eine Frage anzeigen. Zwar sind Partikel, vor allem in langen Satzkonstruktionen, eine Wissenschaft für sich, weil sie oft mehrere Bedeutungen haben, aber in normalen Alltagssituationen komme ich mit gesprochenem Japanisch mittlerweile gut zurecht.

Die Schwierigkeit beginnt bei der Schrift. Genaugenommen werden im Japanischen fünf Alphabete verwendet:

  • Das mit Abstand Schwierigste ist natürlich die Beherrschung der Kanji. In Ermangelung einer eigenen Schrift wurden diese Zeichen vor einigen hundert Jahren aus China importiert (vermutlich von Mönchen), später wurden die beiden Silbenalphabete daraus abgeleitet. In China gibt es ca. 20.000 Kanjis, in Japan hat man nach einigen Reformen einen Grundstock von ca. 2.000 Kanjis zum Standard erhoben. Offiziell werden auch nur diese Kanjis verwendet (in wissenschaftlichen Abhandlungen werden auch Fachkanjis benutzt). Durch Zeichenkombinationen kann man so die meisten Begriffe der Sprache darstellen. Die Wörter, für die es keine Kanji gibt, werden in Hiragana geschrieben.

    Die erste Frage, die man sich als Japanischneuling stellt ist natürlich: Warum soll man sich die Mühe machen, 2.000 Kanji zu lernen, wenn man doch alles in Hiragana schreiben kann? Das Problem sind die japanischen Wörter. In Japan gibt es keine Trennung zwischen Vokalen und Konsonanten, sondern nur 46 feste Silben (ka, ki, ku, ke, ko; ha, chi, fu, he, ho, etc), sowie einige wenige Modifikationen. Die europäischen Sprachen können dagegen mit ihren Kombinationen aus Vokalen und Konsonanten viele hundert verschiedene Silben bilden. Es gibt also, will man nicht unendlich lange Wörter bilden, ein Problem mit der Informationsdichte.
    Die Chinesen haben dieses Problem dadurch gelöst, dass jede Silbe auf etwa sechs verschiedene Weisen betont werden kann, in Japan gibt es eine solche Lösung nicht. Die Folge: viele Begriffe werden gleich ausgesprochen. Man muss tatsächlich manchmal raten. Beispielsweise hat das Wort SEI im japanischen zwölf, z. T. grundverschiedene Bedeutungen. Was machen nun Japaner, die sich gerade über ein System (SEI) zur Herstellung (SEI) von Produkten (SEIHIN) für Leute mit grossem Körperbau (SEI) unterhalten? Sie sind gezwungen, die Schrift zu Hilfe zu nehmen. Gelegentlich sieht man, wie zwei miteinander angeregt diskutierende Japaner Zeichen in die Luft oder auf die Handfläche malen, um dem Gegenüber die Bedeutung ihrer Worte zu erklären! Auch im Fernsehen werden zur Unterstützung des gesprochenen Wortes gelegentlich die passenden Kanji eingeblendet. Man kommt also um die Kanji nicht herum. Allerdings lauern viele Probleme auf den, der auszieht, diese Schrift zu lernen.

    Da ist zum einen die Aussprache. Man sieht sie dem Kanji ja nicht an, also muss man sie mitlernen.
    Ärgerlicherweise haben die Japaner beim Import der Kanjis zur Anreicherung der eigenen Sprache auch gleich noch die chinesische Aussprache mit übernommen. Zu jedem Kanji gibt es also mindestens zwei Aussprachen, sogenannte "Lesungen", die sich vollkommen unterscheiden. Meistens sind es um die vier Varianten, die man zu lernen hat. Leider sieht man einem Kanji auch im Textzusammenhang nicht sofort an, wie es gerade ausgesprochen werden soll. Steht das Kanji alleine, ist die Chance zwar gross, dass es die japanische Lesung (KUN, die chinesische heisst ON) ist, da die meisten Kanjis aber im Zusammenhang mit anderen stehen, ist man auf sein Gefühl angewiesen. Manchmal sind auch beide Lesungen erlaubt, haben dann aber unter Umständen leicht unterschiedliche Bedeutungen.
    Ein kleiner Trost: Wenn man einen Text nicht laut vorlesen muss, ist die Aussprache ja meistens egal. Dann kann man dank der Kanji - auch wenn man nicht alle kennt - zumindest recht zügig erfassen, worum es geht. Das gilt übrigens auch für Chinesisch, das ich in Singapur z. B. von Schildern zwar nicht VORlesen, aber rudimentär verstehen konnte.
    Neben den Lesungsarten und den Bedeutungen, die ein Kanji haben kann, muss man natürlich noch die genaue Strichreihenfolge im Kopf haben, sofern man ein Kanji schreiben möchte.

    Wie schafft man all das? Der Aussenstehende mag vermuten, dass es eine nicht zu bewältigende Sysiphusarbeit ist, der Sprachschüler weiss es. Allerdings ist es nicht so, dass es gar keine Ordnung gäbe. Jedes Kanji besteht aus Grundzeichen, die meistens auch - allein geschrieben - eine eigenen Bedeutung haben. Von diesen Grundzeichen ("Radikalen") gibt es 176. Eines dieser Grundkanjis ist z. B. im Wort für "Japan" vorhanden:
    Kanji NIHON (bzw. NIPPON) besteht aus dem Zeichen


  • Um kurz nochmal das Bedeutungsproblem zu verdeutlichen: NIHON bzw. NIPPON kann allein von der Aussprache her auch "zwei Flaschen" bedeuten, würde dann aber natürlich anders geschrieben.

    Das sind so ziemlich die einfachsten Radikale, die es gibt, viele sind weit komplizierter. Nach ein paar Monaten hat man aber ein Gefühl dafür entwickelt, aus welchen Radikalen ein Kanji besteht. Das hilft einem dann weiter, wenn man im Wörterbuch nachschlagen muss, denn auch das ist eine Wissenschaft für sich. Die Sortierung nach Aussprache würde nicht viel bringen, weil man die ja meistens nicht kennt. Es gibt daher zwei Klassifizierungssysteme. Zum einen nach Radikalen, zum anderen nach Strichanzahl. Das Strichezählen ist aber auch so eine Sache.
    Ein Viereck Kanji , Bedeutung "Mund", Lesungen KUCHI, KOU und KU (übrigens auch ein Radikal), wird z. B. so geschrieben: linker Rand (von oben nach unten), dann oberer Rand und rechter Rand in einem Strich, dann unterer Rand (von links nach rechts). Folglich: drei Striche.
    Wer will, kann ja mal versuchen herauszufinden wie Kanji (EKIIN), das Wort für Bahnhofsangestellter, geschrieben wird. Es besteht aus dem Kanji

  • Die Schreibregeln dürfen also nicht vernachlässigt werden, wichtig ist das bei mir vor allem, wenn ich mein elektronisches Wörterbuch benutze, in das ich die Zeichen mit einem Stift hineinmale. Das vereinfacht die Suche zwar enorm, weil man keine Striche mehr zählen muss, aber man muss dafür zumindest die grobe Schreibweise kennen. Grundregeln: Von oben nach unten, von links nach rechts, Radikale jeweils gesondert. Auch hier gibt es natürlich Ausnahmen.

    An den obigen Beispielen hat man gesehen, dass aus den Radikalen meist keine Bedeutung geschlossen werden kann. Es gibt zwar einige besonders leicht zu merkende Kombinationen, wie z. B. das Zeichen Kanji SUKI für "mögen", das links aus dem Radikal für Frau (ONNA, ME, JOU, NYO) und rechts aus dem Radikal für Kind (KO, NE, SHI, SU, TSU) besteht (Regel: Frauen MÖGEN Kinder). Abstrakte Begriffe kann man sich aber nur über merkwürdige Eselsbrücken merken, die man dann meistens durcheinanderschmeisst:

    Wer würde z. B. bei einer Frau im Haus, Kanji , nicht sofort an ein teures Vergnügen denken? Es bedeutet aber neben "Frieden" und "Ruhe" vor allem "billig"!

    Wer diese Schwierigkeiten kennt, versteht, dass selbst Japaner nicht alle 2.000 Kanji memorieren können und daher z. B. beim Verfassen von Briefen auf Wörterbücher angewiesen sind. In diesem Zusammenhang sind natürlich Computer Gold wert: Man gibt die Lesung ein und bekommt sofort die passenden Kanji zur Auswahl gestellt. Ohne diese Hilfe wäre ich verloren. Zahlenmässig gesehen haben wir im Unterricht zwar schon um die 800 Kanji gelernt, mein tatsächlicher Verstehenswortschatz liegt aber etwa bei 400-500, die Vorlesefähigkeit bei ca. 300 und meine Schreibvermögen bei noch weniger. Es wird daher jetzt bestimmt auch verständlich, dass man selbst nach einem einjährigen Intensivsprachkurs, ohne Wörterbuch den Sinn von Zeitungsartikeln oder Aufsätzen nur in groben Zügen verstehen kann.
    Zum Schluss noch ein Beispiel für die Katakana-Schrift, die auch bei ausländischen Namen eingesetzt wird:

    Katakana

    © Mortimer v. Plettenberg



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